Abstract


Julius Tandler (1869-1936) und sein Verhältnis zu Eugenik, Rassenhygiene und „Euthanasie“


Der Arzt und Universitätsprofessor für Anatomie Julius Tandler (1869-1936) zählt zu jenen Wissenschaftlern, die den Weltruf der Wiener medizinischen Schule mitbegründeten. Darüber hinaus gilt er als legendärer Wohlfahrts- und Gesundheitsstadtrat des Roten Wien der Zwischenkriegszeit. Seine sozialpolitischen Leistungen, von der konservativen Rathaus-Opposition vor 1934 noch vehement bekämpft, fanden nach 1945 allgemein Anerkennung. Mit seinem Namen untrennbar verbunden ist die Schaffung einer modernen und humanen Wohlfahrtspolitik, die Errichtung eines Systems der „geschlossenen Fürsorge“ mit zahlreichen sozialen Wohlfahrtseinrichtungen, in dem Fürsorge in erster Linie nicht mehr an private Wohltätigkeit gekoppelt war, sondern als verpflichtende öffentliche Aufgabe und Rechtsanspruch jedes Einzelnen festgeschrieben war.

Seit den 1990er Jahren wurden Tandlers Äußerungen zu Bevölkerungspolitik, Eugenik und der Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ von wissenschaftlicher Seite zunehmend beanstandet und diskutiert. In den letzten Jahren gerieten Tandlers Aussagen aber auch in den Fokus wenig seriöser, parteipolitisch motivierter Kritik, die darauf abzielte, Tandler tendenziös als ideologischen Wegbereiter der NS-Euthanasieverbrechen darzustellen.

Die Ergebnisse der vorliegenden Studie belegen, dass die in einer beschränkten Öffentlichkeit getätigten problematischen Aussagen Tandlers weder in seine Politik einflossen noch in der Sozialdemokratie rezipiert wurden. Die Aussagen Tandlers hatten für die Protagonisten der NS-Euthanasie keine Relevanz, da dieser als Jude, Freimaurer und Exponent des Roten Wien für die Nationalsozialisten ein absolutes Feindbild war. Aus diesem Grund war das von ihm geleitete 1. Anatomische Institut wiederholt Brennpunkt von Gewaltexzessen antisemitischer deutsch-völkischer und nationalsozialistischer Studierender. Im Wiener Gemeinderat machte wiederum die NSDAP-Fraktion 1932/33 Stadtrat Tandler für die angebliche „Verjudung“ des Wiener Gesundheitssystems verantwortlich.

Tatsächlich beriefen sich die NS-Rassenhygieniker weder auf Tandler, noch diente er ihnen als Vorbild. Seine gelegentlich an die radikale Rassenhygiene angelehnte, problematische Terminologie stand im Widerspruch zu seinen eugenischen und sozialpolitischen Positionen. Sein bevölkerungspolitisch-eugenischer Ansatz beruhte auf dem Fundament konstitutionsmedizinischer, neolamarckistischer und menschenökonomischer Überlegungen, er zielte auf die Verbesserung der sozialen Lebensverhältnisse der Menschen (im Sinn der Konditionshygiene) sowie die Erziehung des Einzelnen zu verantwortungsbewusstem Handeln in Bezug auf die Fortpflanzung ab. Tandler war kein Anhänger der „Euthanasie“, er befürwortete aber – unter der Vorbedingung der Freiwilligkeit und der Aufklärung – die Sterilisation erbkranker Menschen. Dagegen hielten die Vertreter der radikalen Rassenhygiene soziale Verbesserungsmaßnahmen der Menschen für überflüssig, setzten auf Zwangssterilisationen und letztlich auf die „Ausmerze der Minderwertigen“.

Mag. Peter Schwarz

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ProjektleiterIn
Schwarz Peter Mag.
Projekttitel
Univ.-Prof. Dr. Julius Tandler (1869-1936) und sein Verhältnis zu Eugenik, Rassenhygiene und 'Euthanasie' (Forschung und Publikation)

Julius Tandler (1869-1936) and his attitude towards eugenics, racial hygiene and 'euthanasia'
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