Abstract


Die Kinder der Rückkehr


Dieses interdisziplinäre Grundlagenforschungs-Projekt untersucht eine Gruppe von Kindern ehemaliger österreichischer Widerstandskämpfer und jüdischer Flüchtlinge, alle zwischen 1940 und 1955 geboren, die sich seit ihrer Kindheit kennen und sich fast alle seit Ende der Neunziger Jahre in Wien regelmäßig zu einer „Kinderjause“ treffen. Diese Menschen waren in ihrer Kindheit und Jugend aufgrund der politischen Haltung und/oder auch wegen der Remigrations-Biographie ihrer Eltern, alle Kommunisten, eine marginalisierte gesellschaftliche Gruppe: Sie wuchsen in einem Land auf, in dem sie zwar nicht direkt und offen diskriminiert wurden, aber das Schicksal ihre Familien aus dem Selbstbild der zweiten Republik als "erstes Opfer Hitlers" beschwiegen und damit ausgegrenzt wurde und sie selbst sich teilweise dieser Ausgrenzung, die auch innerhalb ihrer Familien nachvollzogen wurde, anpassten. Verschärft wurde diese Außenseiterrolle durch den Antikommunismus im Kalten Krieg, den nach wie vor grassierenden Antisemitismus und der herrschenden Geschichtspolitik des Schweigens über die Schoa, die Verfolgung und Vertreibung ihrer Eltern und der NS-Vergangenheit in Österreich. Andererseits erlebten sie durchweg eine hoch politisierte, weltoffene, edukativ liberale, an hohen Bildungszielen orientierte und solidarische Sozialisation innerhalb der Gruppe.

Die These der Marginalisierung wird in vielen Interviews bestätigt. Die Kinder und Jugendlichen fühlten sich zwar am Rande der österreichischen Mainstream-Gesellschaft, sahen sich aber nicht als isoliert und vor allem nicht als bedeutungslos. Die Zugehörigkeit zu der von der KPÖ geprägten gesellschaftlichen Subgruppe, die durch den Begriff „Kinderjause“ umschrieben wird, stellte den entscheidenden Kompensationsfaktor dar, der das Erleben des Ausschlusses aufwog.

Die Annahme von Traumatisierung der Kinder der Rückkehrer wurde erst im Verlauf des Projekts zu einem zentralen Thema. Unter den Bewältigungsfaktoren (Resilienz) hatte die von den Eltern übernommene Zukunftsorientierung besonderen Stellenwert. Dennoch sind Traumata auf einer vorbewussten Ebene anzunehmen.

Gemeinsame Feste und Freizeit, die Teilnahme an Schulungen und Ferienlagern, die gleiche Kinder- und Jugendliteratur, gemeinsame Werte, eine sehr ähnliche Sicht auf die Welt und ein Grundvertrauen in ihre Veränderbarkeit waren wesentliche Elemente der frühen Sozialisation. In den 1960-er Jahren begann dann die aktive Beteiligung an der Überwindung der politischen Nachkriegs-Restauration. Explizite und implizite „Aufträge“ der Elterngeneration spielten ebenso eine Rolle wie die Teilhabe an unterschiedlichen Lebenswelten, die dem Modell der multiplen Persönlichkeit nahe kommen. Dabei erwies sich das Aufwachsen in einem neutralen Land wie Österreich als Glücksfall, das den Blick und das Reisen nach Osten und Westen gleichermaßen zuließ. Trotz auffälliger Gruppengemeinsamkeiten ist die Individualität der Biografien relevanter als biografische Typologien. Wie sich schließlich herausstellte, war weder die jüdische noch die kommunistische Verortung der Eltern ein Hindernis, in entscheidenden beruflichen Schaltstellen der österreichischen Gesellschaft anzukommen.

Die Analyse von Narrativen/Erzählungen eröffnen ein "Fenster" zu den Identitäten der ErzählerInnen. Gerade persönliche, traumatische Erlebnisse werden häufig in Form von Narrativen erzählt. Sie dienen dazu, fragmentarische und für sich unverständliche Ereignisse in ein Gefüge zu bringen, dass nicht nur individuell, sondern sozial „Sinn ergibt“. Mitglieder einer sozialen Gruppe wie der "Kinderjause" mit geteilter Vergangenheit besitzen ähnliche Narrative bzw. ein ähnliches Repertoire an narrativen Elementen, um diese Vergangenheit sinnvoll zu machen und verarbeiten zu können.

Die Analyse der Akteure und ihres Netzwerks mit Hilfe qualitativer und quantitativer diskursanalytischer Methoden macht deutlich, dass eine umfassende Analyse der Interviews nicht nur Vergleiche zwischen Teilgruppen (Frauen/Männer) ermöglicht, sondern anhand der quantitativen Auswertung auch zeigen kann, wie weit die (sprachliche) Tilgung der Täter geht bzw. welche Formen sie annimmt oder wie stark und welcher Art der Schleier der Erzählsituation - nicht wissen, nicht wissen dürfen - ist. Letztlich kann auf dieser Ebene auch verglichen werden, inwieweit die Narrative der "Kinderjause" dem herrschenden österreichischen Nachkriegsdiskurs entsprechen bzw. von ihm abweichen.

Prof. Berger, Dr. Maimann, Prof. Wodak

Projekt-ID
ProjektleiterIn
Berger Ernst Univ.-Prof.Dr. - Verein f. interdisziplinäre Biographieforschung
Projekttitel
Die Kinderjause: Zur Geschichte einer marginalisierten Jugend (Biografieforschung)

Die Kinderjause (lit.: children's snack): On the history of a marginalised youth (biographical research)
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