Im Herbst 1999 wurde im Zuge der Auflösung der Rechtsanwaltskanzlei Dr. Michael Stern in Wien das umfangreiche Klientenarchiv der Kanzlei aufgelöst. Betroffen davon waren auch die Akten jener Klienten und Klientinnen, die Stern in der NS-Zeit als „Rechtskonsulent“ betreut hatte. Vorgesehen war, diese nicht mehr benötigten, historischen Akten der Altpapierverwertung zu übergeben. Damit wäre eine überaus wichtige, bis dahin unbekannte und daher auch nicht wissenschaftlich genutzte Quelle der Zeitgeschichte verloren gegangen. In einer ad hoc vorgenommenen Bergungsaktion konnten die noch vorhandenen Klientenakten aus den Jahren 1938-1945. Aus den zum Abtransport bereitstehenden Abfallcontainern herausgesucht und für die weitere Bearbeitung gesichert werden. Da bereits ein Teil der Akten abtransportiert worden war, handelt es sich bei dem aus den Abfallcontainern geretteten Material nur mehr um einen Teil- bzw. Restbestand, der aber mit etwa 4.000 Akten immerhin noch einen beträchtlichen Umfang hat. Im Verlauf ihrer Deponierung waren die Akten in totale Unordnung geraten, und während der Lagerung in den offenen Containern hatte ein plötzlicher Regen einen Teil völlig unbrauchbar gemacht.
Mit Unterstützung des „Zukunftsfonds“ konnte die Klientenakten der Kanzlei im Rahmen eines Projekts gesichtet und aufbereitet werden. Eine wesentliche Aufgabe der Projektarbeit bestand daher zunächst einmal darin, die zum Teil in einem äußerst desolaten Zustand befindliche Masse an ungeordneten Akten grob zu sichten, den einzelnen Klienten zuzuordnen, auf Vollständigkeit zu überprüfen und die ungeordneten Geschäftsstücke in eine sinnvolle Ordnung zu bringen. Damit war die Grundlage für eine weitere Aufarbeitung der Klientenakten gegeben. Die Ergebnisse des Projekts sind im Endbericht 2011 in vier Teilen dokumentiert:
p> In einem ersten Teil werden die Voraussetzungen und Zielsetzungen des Projekts, die Erfassung der historischen Dokumente und die Aufbereitung der relevanten Informationen für die Datenbank als Grundlage für die weitere Bearbeitung präsentiert. Sodann wird anhand ausgewählter Beispiele ein Überblick über die inhaltlichen Schwerpunkte der Klientenakten und die Abwicklung der Kanzleigeschäfte geboten. Die Schwerpunktsetzung dieses Teils orientiert sich an den in den Akten vorhandenen Geschäftsfällen beziehungsweise deren Häufigkeit und Bedeutung für das Leben/Überleben der Klienten/Klientinnen der Kanzlei Dr. Stern.Teil zwei enthält die Kurzbeschreibung der Klientenakten. Er gibt über Anlaß und Vorgangsweise der Interventionen der Kanzlei Dr. Stern Bescheid. Nicht immer ist auch das Ergebnis in den Akten dokumentiert. Auf Grund der Rahmenbedingungen, unter denen die Kanzlei Dr. Stern agieren mußte, endete ein Teil ihrer Aktivitäten oft damit, daß ihre weitere Arbeit ab-gebrochen beziehungsweise wegen der Deportation ihrer Klienten/Klientinnen nicht weitergeführt werden konnten. Es erwies sich als praktikabel, in die Dokumentation nur jene Fälle aufzunehmen, die auf Grund der Aktenüberlieferung einen möglichst zusammenhängenden Einblick in die Arbeitsweise und die Schwerpunkte der Tätigkeit Dr. Sterns bieten. Fragmente und Akten, bei denen der Sachverhalt nicht [mehr] rekonstruierbar ist, sind nur in Einzelfällen in der Dokumentation nachgewiesen. Auch von den Klientenakten, die nach 1945 angelegt wurden, wurden nicht alle dokumentiert, sondern lediglich in exemplarischer Auswahl präsentiert.
In Teil drei werden die Personalien der Klienten/Klientinnen dokumentiert. Diese Daten-sammlung enthält – unabhängig von dem jeweiligen Sachverhalt - die Namen aller Klienten/Klientinnen Dr. Sterns, also auch jener, die nach 1945 - etwa zur Entnazifizierung - die Dienste der Kanzlei in Anspruch nahmen. Enthalten sind hier auch die Namen jener Klien-ten/Klientinnen, die noch nicht komplett in die Datenbank aufgenommen werden konnten. Die in vielen Fällen vorhandenen Berufsbezeichnungen geben die Möglichkeit, auch das ökonomisch-soziale Umfeld der Klientel der Kanzlei Dr. Stern einzuordnen. Ergänzt wird dieser Teil der Projektdokumentation durch eine Liste der Adressen der in Wien wohnenden Klienten/Klientinnen Dr. Sterns. Diese Liste ist auch deswegen aufschlußreich, weil die Häufung der Adressen in wenigen Örtlichkeiten auch die zwangsweise Umsiedlung in Wien vor der Deportation dokumentiert.
Teil vier ist das Gedenkbuch für die Klienten/Klientinnen der Kanzlei Dr. Stern, die in den Vernichtungslagern umgekommen sind. Für die Recherche in der Opferdatenbank des DÖW wurden nur jene berücksichtigt, die in den Klientenakten eindeutig auf Grund der vorhandenen Angaben [Familienname/Vorname; Adresse; Geburtsdatum] identifizierbar sind. Im Zuge weiterer Recherchen wird diese Liste zu vervollständigen sein.
In den Klientenakten der Kanzlei Dr. Stern sind – in der Spannung zwischen Bedrohung und Vernichtung, Entkommen und Überleben - die verschiedensten Bereiche jüdischer Existenz unter dem Terror des Nationalsozialismus dokumentiert. Stern konnte als jüdischer „Anwalt ohne Recht“ nur jüdische Klienten/Klienten vertreten und für diese nur sehr begrenzt als Rechtsvertreter agieren. Seine Klienten/Klientinnen waren [wie auch er selbst] einem Sonder-„Recht“ ausgeliefert waren, das ihnen kontinuierlich jede Lebensgrundlage entzog: Ausnahmebestimmungen machten den amtlich sanktionierten Raub möglich, Verarmung wurde zu einem Instrument des alltäglichen Terrors, Kennkarte, Judenstern, Delogierung und Denunziation führten zu einem Leben in beständiger Angst. Als „Konsulent“ hatte der Rechtsanwalt Dr. Stern nur sehr beschränkte Befugnisse. Mit dem Gesetz über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft vom 7. April 1933 hatte sich das NS-System die Möglichkeit geschaffen, Anwälten, die „nicht arischer Abstammung“ waren, die Zulassung zum Beruf entziehen und sie von jeder weiteren Berufsausübung als Rechtsanwälte in Deutschland auszuschließen. Ausnahmen waren lediglich für Anwälte vorgesehen, die vor dem 1. August 1914 ihre Zulassung erhalten hatten, für Kriegsteilnehmer [„Frontkämpfer“] bzw. die Angehörigen von im Krieg Gefallenen. Eine Präzisierung und Verschärfung der bisher geltenden Regelungen brachte die 5. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 27. September 1938. Mit ihr wurden das „Ausscheiden der Juden aus der Rechtsanwaltschaft“ [Artikel 01], die „Löschung der Juden in den Listen der Rechtsanwaltsanwärter und der Verteidiger im Lande Österreich“ [Artikel II] und die „Rechtliche Beratung von Juden“ durch „jüdische Konsulenten“ [Artikel III] einheitlich geregelt. Bei der außergerichtlichen Beratung ihrer Klienten und in der Prozeßverhandlung waren sie den „Rechtsanwälten“ gleichgestellt. Einschränkungen gab es allerdings bei der Strafverteidigung. Hier war ihr Ausschluß vorgesehen, falls es in den Akten oder in der Hauptverhandlung um „geheimhaltungsbedürftige Tatsachen“ ging, sowie „in allen Strafsachen mit politischem Einschlag“.
Die Tätigkeit Dr. Sterns als „Konsulent“ war eingeschränkt auf die Weiterführung der Ge-schäfte ausgeschiedener Kollegen, die Maßnahmen zur Unterstützung der „Auswanderung“ ihrer Klienten, die Übernahme von Pflegschaften, die Funktion als [Abwesenheits-]Kurator und die Abwicklung von Verlassenschaften, als Armenvertreter, aber auch die rechtsanwaltliche Begleitung ihrer Klienten/Klientinnen bei der Bewältigung der sich permanent steigernden Pressionen und Schikanen des Alltags. Auch wenn es der Kanzlei Dr. Stern gelang, in Einzelfällen erfolgreich zu sein, so war die Bilanz insgesamt deprimierend. Selbst die „kleinen“ Erfolge waren in vielen Fällen ohne nachhaltige Wirkung. Es war der Schrecken des Alltags in einem Unrechtsregime, der hundertfach an die Kanzlei Stern herangetragen wurde.
Es waren vor allem vier Bereiche, in denen den die Kanzlei Dr. Stern ihre Klienten/Klientinnen vertrat:
- Bei der Vorbereitung der Auswanderung, - der Regelung vermögensrechtlicher Fragen. - der Abwehr von behördlichen Schikanen und -der Interventionen bei Dienststellen der Polizei und der Gestapo
In den Klientenakten der Kanzlei Dr. Stern sind in einer breiten Streuung die verschiedensten Bereiche jüdischen Verfolgung im Nationalsozialismus – in der Spannung zwischen Bedrohung und Vernichtung, Entkommen und Überleben - dokumentiert. Aufgrund des Aktenbestandes der Kanzlei Stern ist eine Rekonstruktion der Vorgangsweise wie der Auswirkungen der NS-Enteignungsbürokratie an Hand vieler Einzel-Fälle (das heißt konkret: vieler Einzelschicksale) möglich. Der „Alltag der Entrechteten“ ist gekennzeichnet durch einen Terror, der in den Amtsbetrieb der Behörden implantiert gewesen ist und den davon Betroffen das Leben immer schwerer macht. Dieser Terror ist aber auch im alltäglichen Verhalten der durchschnittlichen „Volksgenossen“/“Volksgenossinnen“ zu finden, die versuchten, sich an den Recht- und Schutzlosen zu bereichern, ihnen das Eigentum weg- und dieses an sich zu nehmen, die sie ohne Bedenken öffentlich denunzierten und damit der Verfolgung durch die staatlichen/politischen „Ordnungs“-Hüter preisgaben.
Kumuliert ist dieser Terror in den Aktionen der politischen Polizei, die mit Unterstützung der Einrichtungen der öffentlichen staatlichen wie kommunalen Ordnung und anderer willfähriger Helfer ihren Lebensraum kontinuierlich einschränkten und sie schließlich in die Tötungszentren im Osten deportierten. In den Hunderten von Klienten-Akten erhalten sonst als „Fakten“ zur Kenntnis genommene Informationen aus der NS-Zeit eine konkrete Gestalt, und das Unrecht wird als Teil der Lebensgeschichte der Verfolgten präsent. Die Akten der Kanzlei Dr. Stern geben den Blick frei auf einen Bereich der Unrechtsgeschichte des NS-Systems, der bisher – wohl auch aus Gründen der mangelnden Quellenbasis – kaum beachtet wurden. Da es sich um die Geschäftsakten einer Rechtsanwaltskanzlei handelt, sind sie auf Grund der Aufgaben und der Prinzipien juridischer Arbeit auf sehr konkrete Sachver-halte bezogen. Hier werden auch Adressen genannt und die Namen der Beteiligten festgehal-ten. Auf Grund dieser Fakten können Vorgänge der Vertreibung/“Auswanderung“, der Berau-bung/des “Vermögensentzugs“ und der Vorgeschichte der Deportation oft bis ins Detail nachvollzogen werden: Namen, Personen und Sachverhalten v erdichten sich zu einem beklemmenden Bild der alltäglichen Bedrohung. Die Informationen, die Dr. Stern von seinen Klienten als Grundlage seines weiteren Handelns erhielt, waren nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Sie geben die Innenansicht der einzelnen Lebensgeschichten aus der Sicht der dem Terror des NS-Systems Ausgelieferten wieder.
Auf Grund der Dokumente der Klientenakten läßt sich der Ablauf der Arbeit der Kanzlei Dr. Stern recht gut nachvollziehen. Grundlage bildete jeweils das Erstgespräch mit den Klien-ten/Klientinnen, wobei der Sachverhalt aufgenommen, deren Anliegen formuliert und teilweise auch schon die erforderlichen weitere Schritte festgelegt wurden. Dazu wurden zur „Informa-tion“ dem Akt Notizen beigelegt, mit denen das Erstgespräch und die von den Klien-ten/Klientinnen vorgebrachte Darstellung des Sachverhaltes festgehalten werden. In Vertretung der Interessen der Klienten/Klientinnen war es notwendig, bei Behörden und Dienstellen nachzufragen, Termine festzulegen bzw. zu erstrecken, Kontakte mit entscheidungsbefugten Amtsträgern in Gerichten, Finanzbehörden, Polizei und Gestapo aufrechtzuerhalten, Die Ergebnisse dieser Aktivitäten sind in Notizen und Anmerkungen, Kopien des Schriftverkehrs und in manchen Fällen auch in Originalen von Dokumenten der Klienten dokumentiert. In internen Notizen sind auch die Ergebnisse der Recherchen der Kanzlei notiert.
Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Klientenakten der Kanzlei Dr. Stern bezieht sich auf den Gesamtkomplex „Auswanderung/Emigration“. Bestimmend für den Erfolg war es, wann die Entscheidung getroffen wurde das Deutsche Reichsgebiet zu verlassen, und unter welchen finanziellen Bedingungen diese vor sich gehen konnte. In den Klientenakten der Kanzlei Dr. Stern ist eine umfangreiche Liste bürokratischer Gewaltmaßnahmen dokumentiert, die die davon Betroffenen unter extremen Druck setzen sollte und deren Ziel es war, ihnen vor der erzwungener „Emigration“ beziehungsweise der verordneten Deportation jede materielle/finanzielle Lebensgrundlage zu entziehen. Die Aufgabe der Kanzlei Dr. Stern bestand in diesen Fällen im wesentlichen darin, Geld aus gesperrten Konten für die geplante Ausreise frei zu bekommen, damit die anfallenden Kosten (Papiere, Reisekosten, Spedition und andere Verbindlichkeiten) bezahlt werden konnten. Die Voraussetzungen dafür waren allerdings denkbar schlecht, und sie verschlechterten sich kontinuierlich. Selbst bei günstigen Voraussetzungen war es nicht immer möglich, das Deutsche Reichsgebiet rechtzeitig zu verlassenund eine „Emigration ins Leben“ [Eric Sanders] zu realisieren. Interne und extrene Faktoren waren dafür maßgebend, ob die Bemühungen um eine Ausreise tatsächlich erfolgreich waren. Sowohl die Ausreise aus Deutschland wie auch die Einreise in ein Land, das Flüchtlinge aufzunehmen bereit war, wurden zum Problem. Gefangen im „Labyrinth der Paragraphen“, war es - selbst wenn genügend Geld für die Ausreise vorhanden war – oft nicht möglich, aus Deutschland zu entkommen:
Mit dem gezielten Entzug von finanziellen Mitteln wurden die Klienten Sterns nach und nach in die Verarmung getrieben und damit auch jeglichen selbstständigen Handelns beraubt. Die systematisch betriebene Verarmung wurde zu einem Instrument des Terrors, das die Betroffenen in den Augen ihrer Umwelt entwertete und in die Marginalisierung drängte. Die von Staats wegen ausgeübte Amts-Gewalt zeigte sich in den (in ihren Auswirkungen wirklich gewalttätigen) steuer- und abgaberechtlichen Vorschriften. Sie gaben den Behörden die Mög-lichkeit, je nach Bedarf und Absicht zu Ungunsten der Ausgegrenzten zu agieren. Der Zugriff auf das jüdische Eigentum war umfassend und variantenreich, und es waren Einrichtungen des staatlichen wie des privaten Bereichs, die in der Regel mit dem „legalisierten Raubmord“ [zu dem diese Maßnahmen eine entscheidende Vorstufe waren] nicht in Verbindung gebracht werden.
In den Akten der Kanzlei Stern ist dokumentiert, dass die „Spur des Holocaust“ weit vor der Deportation in die Vernichtungslager im Osten anzusetzen ist und mit der „Deportation“ aus der eigenen Wohnung begann. Ein folgenreiches Repressionsinstrument war die erzwungene Auflösung der bisherigen Wohnung und die Übersiedlung in andere Wohnverhältnisse. Mit dem „Gesetz über Mietverhältnisse mit Juden“ vom 30. April 1939 wurde Juden der gesetzliche Mieterschutz entzogen. Damit wurde „gesetzlich“, was schon vorher in der Praxis da und dort angewendet worden war. Ausgewiesene wurden in „Sammelwohnungen“ beziehungsweise „Sammellager“ gebracht, die entlang des Donaukanals und in der Leopoldstadt konzentriert waren.
Ohne Bedenken waren ohnedies schon in Bedrängnis befindliche Menschen der staatlichen Verfolgung preisgegeben. Im Öffentlichen Raum waren Juden – so sie als solche in der ihnen feindlichen Umgebung zu erkennen waren – permanent Verdächtigungen und Nachstellungen und damit in Konsequenz auch erheblichen persönlichen Gefahren ausgesetzt. Als Juden standen die Klienten/Klientinnen Dr. Sterns unter ständiger öffentlicher Kontrolle. Selbst kleine Vergehen konnten bedrohlich und lebensgefährlich werden, falls sie von eilfertigen Passanten oder eifrigen Ordnungshütern angezeigt wurden. Die Notsituation machte Übertretungen der Willkürordnung nahezu unvermeidbar. In den Klientenakten der Kanzlei Stern ist mehrfach auch von jenen die Rede, die sich den Repressionsmaßnahmen entzogen, indem sie untertauchten und als „U-Boote“ weiterzuleben versuchten. Einige der Klienten/Klientinnen Dr. Sterns, die entdeckt wurden, sind in Konzentrationslager deportiert und dort ermordet worden.
Ein bislang viel zu wenig beachteter Aspekt der NS-Verfolgung ist die Geschichte jener, Ehepaare, die die auf Grund der NS-Klassifizierung als „Mischehen“ galten, und deren Kinder, die ebenfalls dem Terror des Rassismus ausgesetzt waren. Aus nationalsozialistischer Perspektive war die Beständigkeit von „Mischehen“ eine ernsthafte Herausforderung. Das Ziel der NS-Ehepolitik war es, bestehende Mischehen aufzuheben und deren Auflösung auf Antrag des nichtjüdischen Ehepartners zu erleichtern. Ein Schritt dazu war das Gesetz zur Vereinheitlichung des Rechts der Eheschließung und der Ehescheidung im Lande Österreich und im übrigen Reichsgebiet von 1938, mit dessen Bestimmungen der jüdischen Ehepartner/die Jüdische Ehepartnerin gegebenenfalls der Willkür beziehungsweise dem Gutdünken der Gerichte bzw. ihres scheidungsbereiten Partners ausgeliefert wurde.
Eine Scheidung oder der Tode des nicht-jüdischen Partners bedeutete für den jüdischen Partner/die jüdische Partnerin eine ernste Lebensbedrohung und die Gefahrt, in die Deportationen mit einbezogen zu werden. Für die letzten großen Deportationen nach Theresienstadt war ausdrücklich bestimmt, dass zur Deportation auch vorgesehen waren: „Jüdische Ehegatten einer nicht mehr bestehenden deutsch-jüdischen Mischehe, die gemäß Paragr. 3, Abs. 2 der Polizeiverordnung über die Kennzeichnung der Juden vom 1.9.1941 (RGBl. I, S. 547) vom Kennzeichnungszwang befreit sind“ und „Jüdische Mischlinge, die nach Paragraph 5(2) der 1. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 14.11.35 (RGBl. /, S. 1333) als Juden gelten, sofern diese nicht noch mit einem Juden verheiratet sein sollten“. In den Klientenakten der Kanzlei Stern sind deren Lebensgeschichten mehrfach dokumentiert. Um ihre Kinder vor Diskriminierung und Verfolgung zu schützen, waren Mütter bereit, die Vaterschaft ihres legitimen Ehemannes oder Partners in Frage stellen zu lassen bzw. selbst in Frage zu stellen und damit ihre Kinder vor der Verfolgung zu schützen. In den Akten der Kanzlei Dr. Stern sind diese oft verzweifelten, in den meisten Fällen erfolglosen Versuche in mehreren Verfahren zur Feststellung der Vaterschaft dokumentiert. Die Prozedur selbst war langwierig und wurden - freilich stets im Bezugsrahmen eines prinzipiell „rassistisch“ ausgerichteten Denkens - unter Beiziehung von Sachverständigen, Gutachtern und den zuständigen Behörden geführt.
Ein großer Teil der Klienten/Klientinnen Dr. Sterns hat den Terror des Nationalsozialismus und nicht überlebt und wurde in die Vernichtungslager im Osten deportiert.
1938 Mauthausen 1942 Maly Trostinec 1939 Nisko 1942 Sobibor 1941 Opole 1942 Theresienstadt 1941 Kielce 1942 Mauthausen 1941 Lagow/Opatow 1942 Ravensbrück 1941 Litzmannstadt 1943 Theresienstadt 1941 Auschwitz 1943 Auschwitz 1941 Minsk 1943 Sobibor 1942 Riga 1944 Auschwitz 1942 Izbica 1944 Theresienstadt 1942 Auschwitz 1945 Dachau 1942 Wlodawa
Dem Projektbericht ist ein „Gedenkbuch“ angeschlossen, das fast 500 Namen jener Klientinnen und Klienten der Kanzlei Dr. Stern enthält, die auf der Grundlage bisher verfügbarer Informationen in der Opferdatenbank des Dokumentationsarchivs des Öster-reichischen Widerstandes gefunden werden konnten.
Die Niederlage des nationalsozialistischen Deutschland und die Wiedererrichtung demokrati-scher Verhältnisse in Österreich 1945 bedeuteten für die Kanzlei Stern – was den Geschäfts-gang seiner Kanzlei betrifft – keinen entscheidenden Einschnitt. Die Kanzleigeschäfte gingen ohne wesentliche Zäsur weiter. Die Rahmenbedingungen waren allerdings jetzt andere geworden. Nach 1945 wurde die Kanzlei nach wie vor wohl auch wegen der Verbindungen und Kontakte ihres Kanzleiinhabers geschätzt. Im Gegensatz zu der NS-Zeit, in der die Behörden, mit denen Dr. Stern in Vertretung seiner Klienten Kontakt hatte, eilfertig bemüht waren, die von der Partei vorgegebenen Gesetze anzuwenden und systemkonform zu handeln, geben ehemalige Parteimitglieder jetzt in der Kanzlei Stern an, den damals Verfolgten „immer schon“ geholfen bzw. auf deren Seite gestanden und nur pro Forma oder „aus schierer Not“ sogar „erzwungen“ der Partei angehört zu haben. Dr. Stern hat auch diesen Klienten/Klientinnen, die sich von der NS-Vergangenheit weiß zu waschen versuchten, seine Unterstützung als Rechtsanwalt geboten und deren „Rhetorik des Herauswindens“ in seine Schriftsätze implementiert.