Abstract


Großraum Wien – Stadt- und Regionalplanung als Elemente imperialer NS-Politik bzw. NS-Standortpolitik


Wien als Drehscheibe zwischen „Altreich“ und Südosteuropa

Die neuere Literatur fokussiert auf die These eines komplexen Zusammenhangs zwischen Nationalsozialismus und Modernismus. Roger Griffin etwa spricht vom Topos eines „Neubeginns“ im faschistischen Selbstverständnis. Die Siedlungs- und Infrastrukturplanungen des „Dritten Reiches“, getrieben von einem genuinen rassistischen und biopolitischen Dezisionismus, nahmen - so Griffin - grundlegende Elemente der Nachkriegskonzepte ökonomischer und sozialer Regulation vorweg. Mit dieser These sind drei Forschungsdimensionen verbunden:

  • Die Dimension der Kontinuität technokratischer Projekte
  • Die Dimension kollektiver Wahrnehmung von „Modernität“
  • Die Dimension der Ambivalenzen der Moderne

Standen bislang in der Forschung zum Nationalsozialismus in Wien die spektakulären Monumentalbauten im Zentrum, die mit dem zynischen Kalkül der Zerstörung des jüdischen Wien den 2. Bezirks nach den Richtlinien der „Führerstädte“ in ein Gauforum umgestalten sollten, so setzte sich das Zukunftsfonds-Projekt „Grossraum Wien“ mit dem vielschichtigen Planungsgeschehen auseinander, das der Stadt eine zentrale Funktion in einer regionalen Ökonomie sichern sollte.

Gemäß der „Theorie der zentralen Orte“ sollte Wien jene Infrastruktur erhalten, die zur ökonomischen und politischen Durchdringung des südosteuropäischen Wirtschaftsraumes notwendig war. Erstmals in der Stadtgeschichte wurde dafür ein sogenanntes „Leitbild“ entwickelt, dessen Konturen sich wie folgt umreißen lassen:

  • Zentralisierung des Handels mit Südosteuropa in Wien, basierend auf dem Tausch agrarischer Rohstoffe gegen landwirtschaftliche Maschinen
  • Aufbau eines agroindustriellen Komplexes zur Verarbeitung südosteuropäischer Agrarexporte
  • Ausbau des Wiener Hafens zum zentralen und hochseeschifffahrtstauglichen binneneuropäischen Transithafen
  • Zentralisierung der Finanzdienstleistungen und der Wissensproduktion für den Südosthandel bei Wiener Banken, Produktenbörsen und Hochschulen
  • Beibehaltung und Intensivierung der kleingewerblichen Geschmacks- und Luxusindustrie mit Ausrichtung auf südosteuropäische Konsumentenmärkte

Dem entsprach die Großgliederung des Raumes in vier Zonen: ein donaunahes Industriegebiet, ein Siedlungsgebiet entlang der Süd- und der Westbahnstrecke, die Bildung reiner Agrargemeinden zur Nahversorgung, und die Konservierung des Stadtzentrums als kommerzielles und kulturelles Rückgrat der Handelsstadt. In dieser Matrix sollte eine integrierte Infrastruktur neuer Bahnlinien, Autobahntrassen, Flughäfen und Energieversorger entstehen, die sich der neuen Idee der „Stadtlandschaft“ verpflichtete.

Die Nationalsozialisten haben das Schlagwort vom „Hamburg des Südostens“ nicht erfunden. Es stammte vom renommierten Wirtschaftsjournalisten Gustav Stolpers von Anfang der 1920er Jahre. Allerdings entwickelten die Nationalsozialisten eine zuvor nicht gekannte administrative und diskursive Energie, aus der heraus sich mit scheinbarer Evidenz ein gesamtgesellschaftliches Großprojekt ableiten ließ: die Reorganisation des Stadtraumes und die biopolitische Steuerung entlang einer dominanten ökonomischen Funktion. Dies bedeutete im Sinne Griffits einen „Anfang“ zu setzen, der so radikal erschien, dass seine „Kosten“ aus dem kollektiven Gedächtnis ausgespart werden konnten. Während die monumentalen Repräsentationsbauten des Regimes unmittelbar nach dessen Ende distanziert und als zeichenhafter Träger eines Bruchs perhorresziert werden konnten, bildete das technokratisch-modernistische Leitbild der NS-Zeit für Wien ein in Variationen wiederkehrendes, von seinen Ursprüngen abgespaltenes Entwicklungsziel.

Univ.-Prof. Dr. Siegfried Mattl

Projekt-ID
ProjektleiterIn
Mattl, Univ.-Prof.Dr. Siegfried - Österr. Ges.für Zeitgeschichte
Projekttitel
Großraum Wien- Stadt- und Regionalplanung als Element imperialer NS-Politik

Vienna metropolitan area - urban and regional planning as a part of imperial National Socialist politics
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